Testbericht: Der Reitwagen Folge 230 Dez 2005
Seit über 100 Jahren schwarz und rund. Da haben es die neuen Reifen nicht leicht, zu erklären, warum sie ausgerechnet jetzt halten wie die Magnetbahn von Shanghai. Da gibt's nur eins: Umlegen bis aufs Gehör
Es gibt keine andere Chance. Die modernen Reifenmischungen beginnen jetzt auch in der ganz normalen Mittelklasse so zu funktionieren, dass du andrücken musst wie ein Gestörter. Vorher rührt sich exakt: nichts. Wer mit dem wichtigen Gesicht in der Boxenstraße den Helm runternehmen und einen gediegenen Kommentar zum Reifencharakter und der Lage der Nation im Allgemeinen abgibt, hat entweder den Prospekt vorher auswendig gelernt (gilt für 90% der Vortragenden) oder ist dazu im Stande, zumindest so lange am Gasanschlag zu hängen, dass er wenigstens drei bis viermal pro Runde unter spürbarer Schwerelosigkeit des Haftungsverlustes „jössas, das kann sich aber niemalsnicht ausgehen" durch die zusammengepressten Lippen zischt (5%). Weitere 5% heben erkaltete Supernovas vom Berge-Traktor und einschottern geschundene Verkleidungen ohne zu sprechen. Für die Rennreifen mit Straßenzulassung, die Semi-Slicks mit Minimalprofil da draußen, gilt die Regel seit Jahren. Jetzt dringen die Racing-Toptechnologien aber mit erschreckender Performance in die ganz normalen Haushalte vor. Die Gummi-Leute haben ihre Chemie und ihre Eingriffe in die Aufbau-Dynamik nach einem erbarmungslosen Technologie-Fight der letzten Jahre jetzt derart entspannt im Griff, dass sie die Mischung aus Renntechnik und Alltagseigenschaften offenbar lückenlos präzise dosieren, wie es ihnen gerade gefällt.
Wenn man sich in den chemischen Lehrbüchern der Gummiküche für Fortgeschrittene ein bisserl auskennt, weiß man, dass dieser Betrachtungswinkel vor wenigen Jahren ganz einfach unmöglich war. Dann weiß man auch, dass die letzte Lernkurve der Reifenkonstrukteure die steilste der gesamten Motorradindustrie ist. Rennreifen hatten immer ein paar sehr grundsätzliche Eigenschaften, die mit brauchbarer Alltagssicherheit nicht verbindbar waren.
Sagen wir z,B.: Thermik. Rennreifen laufen in Temperaturzonen, die sie nur dann nicht wegschmelzen lassen wie Schokolade im Ofenrohr, wenn ihre Mischungen beim langsamen Dahinnudeln noch gar nicht reagieren. Also relativ geringe Belastungen, in denen normale Straßenreifen zu 80% ihres Lebens laufen. Dort bleiben Rennreifen eiskalt, hart und nicht ungefährlich, während Straßenreifen, wenn man sie auf 20 härtere Rennstreckenrunden ausgeführt hat, mit der netten Erfahrung des plötzlichen Überhitzens und schlagartigem Haftungsabbau reagieren. Also: Wer als besonders cooler Hund Rennreifen in die Stadt und auf den ersten Pass führte, wälzte sich mit genauso hoher Wahrscheinlichkeit wie die Sparefrohs, die ihre Urlaubs-Allwetterreifen zum Abschluss der Saison noch ein paar Runderln auf dem Ring ,,fertigfahren" wollten.
Die aktuellsten Reifenkonstruktionen schauen kaum anders aus. Aber sie kommen aus dem Background der nahezu unheimlich angewachsenen Kontrolle aller Funktionselemente in einem modernen Reifenaufbau, die sich die Industrie unter dem gewaltigen Druck der Moto-GP Serie in wenigen Jahren aneignen musste. Was sich in einem Reifen am Limit abzuspielen hat, hat man vor fünf Jahren ganz einfach nicht einmal annähernd mit der derzeitigen Selbstverständlichkeit gewusst. Elektroboot gegen Flugzeugträger, um das einmal in saftigen Farben darzustellen. Dunlop stellt als Ergebnis dieser vollkommenen Kontrolle einen auf den ersten Blick normalen Straßenreifen in die Saison 2006 und nennt ihn schon ziemlich verdächtig ,,Qualifier". Mehr Profil als die Racing-Liga, aus dem Kaffeehaus heraus mit kühler Lauffläche fast sofort hart belastbar. Sie lassen uns auf eine der besten Teststrecken mit hohem Hinterrad-Belastungsanteil, den spanischen Almeria-Track, auf dutzenden verschiedenen Seriengeräten aller Hubraumklassen raus. Und der vordere Qualifier zieht auf allen Chassis-Varianten so transparent in den Scheitel, dass ein paar Jahre alten Racingreifen-Konzepten kein Millimeter Vorsprung ;
bliebe. Im ersten Abkippen braucht er etwas härteren Krafteinfluss, aber die Korrekturfähigkeiten in der tiefen Schräglage und unter schrägem Bremsdruck bleiben auf Racing-Level. Das Limit setzt dabei wenig früher ein als auf reinen Rennmischungen, setzt aber die Sicherheit nach oben, weil der Reifen besonders hinten viel Platz mit nicht zu plötzlich abreißender Haftung übrig lässt, um die ersten Ansätze zum Ausbruch schon in den frühesten Andeutungen zu spüren und zu kontrollieren. Das erste Übersteuern setzt so weich an, dass noch lange keine Alarmstimmung aufkommt. Dunlop steuert den Einsatz der vorne verwendeten Mischung (nicht unähnlich dem Medium-Compound mit Sportmax GP) mit zwei Nylon-Lagen und einem Schnittgürtel aus zwei Aramid-Lagen, deren Gesamtspannung während der Produktion in verschiedenen Reifenzonen unterschiedlich dosiert wird. Damit verarbeitet die Karkasse sehr exakt die Kräfte aus den Einwirkungsrichtungen, die in verschiedenen Zonen mit unterschiedlichem Charakter wirken. Klingt kompliziert, ist aber in der reellen Wirkung einfach nachzuvollziehen. Wenn eine Karkasse Energien sauber leitet oder absorbiert, nimmt sie der Oberflächenmischung Arbeit und damit Überlastung ab. Folge: Die Superkarkassen der Neuzeit lassen weiche Rennmischungen wesentlich länger überleben, bevor ihre Molekularstruktur beschädigt wird. Damit stoßen die Racing-Gummis immer weiter zu sinnvollen Alltagsanwendungen vor und laufen trotzdem unter Renndruck kühler als alte Racing-Konzepte. Was mit dem Qualifier beginnt, ist noch immer nicht am Ende. Wir werden in absehbarer Zukunft auf reinen WM-Racing-Compounds ganze Sommer lang über die Alpenpässe oder Innenstadtpromenaden sliden dürfen, ohne dass sich die Reifen langweilen.